Viele Einwohner Wroclaws erinnern sich noch sehr gut an den Verkauf von Blutegeln vor der Markthalle, an die Fuhrwerke mit Heizkohle, tragbare Messerschleifereien auf den Straßen oder Flaschen- und Lumpensammler in den Innenhöfen Wroclaws. Welches von Ihren Wroclaw-Fotos hat die meisten Klicks und Likes?
Dr. Jarosław Maliniak: (lacht) – „Ich erzähle von einigen. Den Rekord erzielte ein Foto von zwei Mädchen mit Eis, aufgenommen in der ul. Komandorska im Jahr 1975. Es hat 3,5 Tsd. Likes und 700 Kommentare. Die Leute schreiben, welches Eis in Wroclaw das beste war und an welche Sorten sie sich erinnern. Das zweite Foto, das für eine echte Lawine an Kommentaren sorgte, war die Warteschlange vor dem Taxistand am Hauptbahnhof aus dem Jahr 1975. An einem Tag wurde es über tausend Mal geteilt und mit Kommentaren versehen "Ja, ich stand auch in solcher Schlange", "Und der Fahrer nahm immer mehrere Leute auf einmal mit". Ein Hit ist auch die "Erholung" an der Oder aus den 80ern mit einer Dame, die Sonnenbad genießt, den „Syrenkas“ und kleinen Fiats und Kühen“.
Wer schaut sich die Fotos vom sozialistischen Wroclaw an? - />>Man könnte meinen, es sind die 40- oder 50-Jährigen. Ich höre immer öfters, dass auch Schüler der Gymnasien und Lyzeen von den Schwarz-Weiß-Fotos fasziniert sind. Für sie sind doch die 70er oder 80er Jahre beinahe so fern wie der "Januaraufstand". Sie entdecken, wie Wroclaw aussah, wie die Menschen lebten, wie die Alltagsgegenstände aussahen. Sie kommentieren diese Fotos, teilen sie. Sie bemerken die Details, z.B. die breiten Hosenbeine oder hohe Absätze an den Männerschuhen. Man muss dabei daran denken, dass es früher in einem Wohnblock oder Mehrfamilienhaus meistens nur eine Fotokamera gab. Es gab also einen solchen "Fotografen" vom Dienst, der zu Familienfeiern eingeladen wurde. Bei uns begann der Fotoboom in den 70er Jahren, als die russischen Smienas, Zenits, Zorkas und die Filme von Orwo massenweise erhältlich waren". Für ein großes Interesse sorgen die von Ihnen auf dem Facebook-Profil Nie-zapomniany Wroclaw (Unvergessenes Wroclaw) publizierten Fotogalerien - Leuchtreklamen von Wroclaw, der Zauber der Kindheitserinnerungen oder die />>Spelunken“ von Wroclaw mit dem damals so beliebten Bierauschank unter freiem Himmel - ( lacht ) "In den 70er Jahren des 20. Jh. trank ein statistischer Pole 8,6 l reines Alkohol. Ein Maß Bier auf dem Weg oder während der Arbeit zu trinken galt es damals als völlig normal. Auf den Fotos sehen wir die berühmten Bierkneipen za Zajazdem auf dem pl. Kromera oder Karłowiczanka in der ul. Zawalna. In der letzten Zeit werden die Fotos Wroclaws aus den 60er oder 70er Jahren immer beliebter. Vielleicht liegt das daran, dass es "unser Wroclaw" ist. Die Einwohner Wroclaws suchen nach ihren Wurzeln. Sie sehen sich die Bilder aus den 70ern an, weil sie sich an diese Zeit erinnern. Sie empfinden für sie mehr Sympathie als für die Ansichten vom Breslau der Vorkriegszeit, denn das war nicht ihr Wroclaw. Das sozialistische Wroclaw wird übrigens auch im Ausland angeschaut. Man kann das anhand der deutschen, russischen, englischen oder ukrainischen Kommentare erkennen. Wir haben uns gewundert, als wir neulich bei den Fotos Likes auf Japanisch und Koreanisch gesehen haben. Ich denke, dass für sie dieses sozialistische Wroclaw sehr exotisch sein muss“. Klingen die deutschen Kommentare etwa wie "schau hin, was von unserem Breslau übrig geblieben ist"? - />>Eben nicht. Die Leuchtreklamen in den Straßen aus den 70ern kommen gut an. Auch die künstlerischen Elemente der Fotos werden gelobt. Es wird auf den malerischen Aufbau der Szene hingewiesen und der künstlerische Wert der von uns gezeigten Fotos gut bewertet. Die Seitenbesucher schreiben oft "Aufnahmen wie aus dem Film". Internetportale, die alte Fotos von Wroclaw zeigen, sind gerade sehr in? - />>Mit Sicherheit. Es gibt bereits mehrere große Portale und rund ein Dutzend kleinere, die sie nachzuahmen versuchen. Alte Fotos aus Breslau der Vorkriegszeit und Wroclaw der Nachkriegszeit haben eine große Fangemeinde“. Ist das ein Hobby und Leidenschaft oder ein gutes Geschäft? Kann man mit solchen Fotos auf Internetseiten Geld verdienen? - />>Man kann. Das Geld verdient man z.B. mit der Werbung. Dies führt jedoch leider zu unfairer Konkurrenz und illegaler Beschaffung der Fotos. Wasserzeichen von uns oder Institutionen wie Museen, das Ossolineum, Bibliotheken oder Archive werden entfernt. Die Bilder werden entsprechend beschnitten oder mit Hilfe von Photoshop entfernt man die Wasserzeichen und versieht die Fotos mit eigenen. Es gibt auch Leute, die Rechte an Fotos beanspruchen, die ihnen gar nicht gehören. Sie sind so unverschämt, dass sie sogar mit Rechtsmitteln drohen, falls jemand "ihre" Fotos publiziert. Im Fall unserer Bilder sind wir im Besitz aller Rechte und Lizenzen zu deren Nutzung“. Wie viele Fotos befinden sich in den Beständen des Zentrums "Pamięć i Przyszłość“ (Erinnerung und Zukunft)"? - />>Wir haben mittlerweile 100 Tsd. Fotos, 80 Tsd. davon beziehen sich auf Wroclaw. Rund 13 Tsd. Bilder befinden sich im Online-Bestandskatalog". ">
Werden die Bilder unentgeltlich zur Verfügung gestellt?
- „Ja. Alles, was sich im Internet befindet, kann jeder kopieren, die Fotos sind natürlich in der sog. Internetbildgröße und mit unserem Zeichen versehen. Kostenpflichtig sind Fotos, die für kommerzielle Zwecke überlassen werden“.
Woher bekommen Sie die Fotos?
- „Unterschiedlich. Wir haben zwei große Sammlungen von Fotografen aus Wroclaw erworben: von Stanisław Kokurewicz (ca. 13 Tsd. Bilder) und von Zbigniew Nowak (ca. 50 Tsd. Bilder), die seit den 60er und 70er Jahren mit Tageszeitungen aus Wroclaw zusammengearbeitet haben. Zuletzt erwarben wir ca. 50 Fotos vom mittlerweile 99jährigen Stefan Arczyński, einem der bekanntesten Fotografen Wroclaws. Viele Bilder bekommen wir in Form von Schenkungen. Es sind Familienerinnerungsstücke der Umsiedler aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten, die sich nach dem Krieg in Wroclaw niederließen. Wir haben auch deutsche Fotos, die in den von den Polen besetzten Wohnungen und Häusern Wroclaws gefunden wurden. Es gibt auch Aufnahmen, die in Wroclaw von Zwangsarbeitern während des 2. Weltkriegs gemacht wurden. Man sieht dort Straßen, Arbeitsstätten oder Familienalltag im deutschen Breslau bzw. in ehemaligen polnischen Ostgebieten, z.B. in Lemberg. Wir haben auch Fotos der ehemaligen sibirischen Verbannten, die während des 3. Mai-Umzugs mitten in Afrika gemacht wurden. Die wenigsten Besitzer der Fotos rechnen mit Bezahlung, wir haben kein Problem damit."
Wie viel kosten solche Sammlungen?
- „Es kommt drauf an, ob es sich um einem hochpreisigen Autor handelt und von der Anzahl der Fotos. Je mehr man kauft, desto billiger. Auf internationalen Auktionen kann ein einziges Foto eines der berühmtesten Fotografen etliche Tsd. Euro erzielen. Unter polnischen Verhältnissen sind es mehrere Tausend Zloty, wenn auch der Rekordpreis für ein Bild aus der Zwischenkriegszeit neulich bei 130 Tsd. PLN lag. Fotos von Wroclaw, von Amateuren aufgenommen, können von 20 bis 500 PLN wert sein. Bei einer Sammlung von 1000 Fotos können es 10 Tsd. PLN oder mehr sein. Am wertvollsten sind die, die eine einmalige Szene zeigen, z.B. die Sprengung des Denkmals des Kaisers Wilhelm I. neben dem Graben (heute steht dort das Denkmal von Bolesław Chrobry). Man kann sagen, dass das Foto ähnlich wie ein Kunstwerk so viel wert ist, wie jemand bereit ist zu zahlen“.
Wenn die Leute die Fotos bringen, was sagen sie?
- „Meistens "ich habe sie euch mitgebracht, weil sie hier nicht verloren gehen". Manche haben Angst, dass die Kinder oder Enkel sie auf den Müll werfen. Es gibt auch Leute, die ganze Plastiktüten von Fotos aus den 80er Jahren in Wroclaw mitbringen. Andere geben uns ein Paar Fotos und erzählen dabei stundenlang die ihre Lebensgeschichte, weil die Bilder die Erinnerungen wach werden lassen. Es sind ergreifende, sehr gefühlvolle Momente".
Sehen Sie die Fotos auf dem Facebookprofil Nie-zapomiany Wrocław, des Zentrums "Pamięć i Przyszłość".